Heilpädagoge (m/w), Studium
Eine etwas andere Wohngemeinschaft
Heilpädagogen/-innen arbeiten in der Jugend- und Behindertenhilfe
Hasan* vermisst eine Zigarettenschachtel, die er im Bad deponiert hatte. Er glaubt, dass seine Mitbewohnerin Anna* die Zigaretten gestohlen hat. Anna steckt den Kopf aus dem Zimmer. „Ich war es nicht.“ Aber Hasan ist absolut sicher, dass Anna die Schachtel gestohlen hat. Er ist ziemlich aufgeregt. Konflikte wie dieser kommen in der Wohngemeinschaft häufiger vor. Michaela Menth, eine Betreuerin, greift ein. „Rauchst du denn überhaupt?“, fragt sie Anna. Anna schüttelt den Kopf. „Warum sollte Anna also deine Zigaretten stehlen?“, wendet sie sich an Hasan. „Ihr Freund raucht“, sagt Hasan. „Sie macht es für ihren Freund.“ Michaela Menth erinnert Hasan an einen Konflikt, in dem er kürzlich beschuldigt wurde. Diesen Konflikt habe man dann ruhen lassen, weil sich die Wahrheit nicht finden ließ. Die Fünfunddreißigjährige hat einen entschiedenen Ton, ohne autoritär zu wirken. Langsam beruhigt sich Hasan.
Die Menschen der Wohngemeinschaft, die Michaela als Heilpädagogin betreut, haben seit ihrer Kindheit eine leichte geistige Behinderung. Als Kind wurden sie vernachlässigt, manche misshandelt. Ihre Biografien sind schwierig. Psychische Störungen bildeten sich heraus. Einige haben außerdem ein Suchtproblem.
„Es geht darum, zu verstehen.“ So bringt Michaela die Aufgabe eines Heilpädagogen auf den Punkt. „Es ist wichtig, auf Augenhöhe mit den Menschen zu bleiben, was auch immer für ein Problem sie haben.“
Nach dem Abitur hat sie zunächst eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin gemacht. Sie wollte ihre Kompetenzen erweitern und schloss nach einigen Jahren im Beruf das Studium zur Heilpädagogin an. „Das Studium hat mir zu einem tieferen Verständnis für die Belange von Menschen in schwierigen Lebenssituationen verholfen“, sagt sie. „Außerdem haben sich meine kommunikativen Fähigkeiten verbessert.“ Das Studium vermittelt neben Pädagogik auch Psychologie, Recht, Sozialpolitik, Soziologie, Anthropologie und Ethik. Nach dem heilpädagogischen Menschenbild ist jeder Mensch – gleich welcher Beeinträchtigung – individuell und als gleichwertig und gleichberechtigt anzusehen.
Elf Bewohner zählt das Wohnprojekt des Unionhilfswerkes. Es wird von einem Sozialarbeiter geleitet. Die Bewohner werden tagsüber von zwei Heilpädagogen, einem Diplom-Pädagogen, einer Ergotherapeutin, einer Psychologin, zwei Heilerziehungspflegern, einem Studenten der Sozialen Arbeit und einer Sozialarbeiterin betreut. „Eine offene und ehrliche Kommunikation unter uns ist wichtig“, sagt Michaela. Als stellvertretende Projektleiterin verbringt sie einen großen Teil ihrer täglichen Einsätze hinter dem Schreibtisch. Da sind Dokumentationen und Entwicklungsberichte zu schreiben, außerdem zahlreiche administrative Aufgaben zu erledigen.
Es sind Kleinigkeiten und stille Fortschritte, die etwas über die Entwicklung der Bewohner aussagen. Da ist die Frau, die für die Teeliebhaberin Michaela einen extra feinen Tee bereitet, als sie zum Gespräch kommt. Oder die positive Bilanz einer Bewohnerin, die ungefähr dreißig Mal im Jahr in die Klinik gebracht werden musste und nun bereits seit vier Monaten nicht mehr drin war. Seit das Wohnprojekt gegründet wurde, ist Michaela dabei. „Es ist spannend, etwas mit aufzubauen und zu gestalten.“ Doch sie will weiter. Im nächsten Jahr möchte sie auf ihrem Diplom mit einem Master-Studiengang aufbauen. Heilpädagogische Diagnostik interessiert sie oder die Interdisziplinäre Therapie psychischer Störungen. Sie ist noch nicht sicher, welches Fach sie wählen wird. Ihre WG verlässt sie dafür aber nicht. Den Master wird sie am Abend und an den freien Tagen absolvieren.
* Namen geändert
Text & Fotos: Kathrin Schrader